08.12
„Die digitale Gesellschaft fällt nicht vom Himmel“ – ein Gespräch mit Sabria David
Beim digitalen Wandel stehen Menschen im Vordergrund, nicht die Technik. Nach Ansicht von Sabria David, Vize-Präsidentin von Wikimedia Deutschland, wirkt Corona wie ein digitaler Crash-Kurs für die Arbeitswelt, das Bildungssystem und die Gesellschaft als Ganzes. Gerade jetzt will sie Medienkonsumenten für eine Online-Offline-Balance sensibilisieren und hat dazu ein Sachbuch über Medienresilienz verfasst. Wolfgang Scheidt hat mir ihr darüber gesprochen.
blmplus: In Ihrem Buch „Die Sehnsucht nach dem nächsten Klick. Medienresilienz – wie wir glücklich werden in einer digitalen Welt“ “ raten Sie zu einem gelassenen, räsonierten Umgang mit Smartphones, Apps & Co. Worum geht es Ihnen?
Sabria David: Ich möchte dazu einladen, einen entspannten und neugierigen Blick auf die Digitalisierung zu werfen, ohne diesen ganzen Alarm und ohne Ideologie. Mein Buch richtet sich sowohl an Leser, die noch nichts mit der Digitalisierung zu tun hatten als auch an solche, die digitalaffin sind.
In der technisierten und durchrationalisierten Welt stellt sich die Frage nach dem menschlichen Glück. Hinter vielen positiven wie destruktiven Phänomenen des digitalen Wandels steht nämlich die Sehnsucht nach Kontakt und Bindung, nach einer Gemeinschaft, in die wir uns eingebunden fühlen können. Wir haben auch in einer digitalen Welt das Recht, glücklich zu sein. Aber wie ist das möglich? Ich erkläre erst den digitalen Wandel und meinen Ansatz der Medienresilienz – und dann gibt es einen Praxisteil mit Anwendungen und Empfehlungen zu Bildung, Arbeit und Gesellschaft. Die Kurzfassung lautet: Eine gute digitale Gesellschaft ist möglich, aber sie fällt nicht vom Himmel.
blmplus: Was bedeutet die Sehnsucht nach Kontakt und Bindung bezogen auf die junge Zielgruppe, die diesen Kontakt vor allem in Sozialen Netzwerken suchen?
Sabria David: Die ‘junge Zielgruppe‘, das sind ja Menschen. Und Menschen suchen Kontakt und Bindung. Das tun wir alle, weil wir Menschen soziale Wesen sind. Für junge Menschen kommt noch dazu, dass es ihre entwicklungsgemäße Aufgabe ist, sich von den Eltern weg hin zu ihrer Peergroup zu wenden. Und wenn alle Freunde sich auf den sozialen Medien tummeln, dann geht man halt da hin. Gäbe es im öffentlichen Raum zum Beispiel Orte, an denen sich Jugendliche von Eltern ungestört zum Musikhören, Tischtennisspielen und Hausaufgaben machen treffen könnten, würden sie wahrscheinlich dahin gehen.
Medienresilienz: schon früh lernen sich abzugrenzen
Wohl war. Aber wie können Kinder und Jugendliche eine gewisse Medienresilienz entwickeln, um sich nicht zu stark beeinflussen zu lassen?
Idealerweise haben Kinder und Jugendliche vorher ausreichend Raum und Zeit gehabt, um sich, ihre Freunde und die Welt da draußen in all ihren Facetten zu begreifen und handhaben zu lernen. Gut Nein-Sagen und sich abgrenzen zu können sind wichtige Kompetenzen, sowohl um allgemein gesund zu bleiben, als auch um als junger Mensch Medienresilienz zu entwickeln. Das bedeutet: sich einlassen können, sich aber dem medialen Sog auch wieder entziehen zu können, ohne Sorge zu haben, etwas zu verpassen oder vergessen zu werden.
Wie lassen sich die Voraussetzungen für eine gute digitale Gesellschaft schon im Rahmen der Schulbildung und der Medienerziehung schaffen?
Für mich ist dabei entscheidend, dass Deutschland in punkto Digitalisierung endlich aus seinem Dornröschenschlaf aufwacht. Grade im Bereich Bildung haben wir fahrlässige Lücken entstehen lassen. In Schulen und Bildungseinrichtungen sollte der digitale Wandel endlich angemessen thematisiert werden, und zwar nicht nur als rein technisches Thema. Fertige Lösungen braucht man dafür gar nicht, das geht auch mit Gesprächsanlässen, Impulsvorträgen, Lesungen, Projekten oder indem man das Wissen der Schüler über ihre Lieblings-Apps miteinbezieht.
Digitalisierung, das heißt ja nicht nur Technik, sondern auch experimentierfreudig sein, kollaborativ sein, Wissen gemeinsam erarbeiten und teilen, neue Lösungswege ausprobieren. Das A und O ist: sich dem Thema zu stellen und zuzuwenden. Schließlich werden alle Kinder und Jugendlichen später in einer digitalen Gesellschaft leben und arbeiten.
Noch vor einigen Jahren galt es als unseriös, Wikipedia fürs Schulreferat zu verwenden – heute ist es Standard. Als Vize-Präsidentin des Vereins Wikimedia Deutschland sind Ihnen freie Inhalte und freies Wissen besonders wichtig. Warum?
Heute ist Wikipedia Standard, weil die Qualität der Beiträge sehr viel höher ist als vor zehn Jahren. Da alles durch seriöse Quellen belegt werden muss, sind vor allem auch die weiterführenden Hinweise auf Sekundärliteratur für Schüler und Schülerinnen eine wichtige Informationsquelle. Wie wichtig der freie Zugang zu Wissen ist, haben wir grade in der Corona-Krise gelernt: Auf welche digitalen Lerninhalte dürfen Schüler und Lehrer während des Distanzlernens zugreifen? Wie können Forschungseinrichtungen weltweit ihre Studienergebnisse zu Corona austauschen? Über welche digitalen Quellen findet öffentliche Meinungsbildung statt?
Für mich ist der freie Zugang zu Wissen ein Pfeiler der Bildungsgerechtigkeit und auch der gesellschaftlichen Stabilität, wenn Sie an Verschwörungstheorien denken. Schauen Sie sich den Wikipedia-Artikel zur COVID-19-Pandemie an, da sind hunderte von Sekundärquellen verlinkt, täglich aktualisiert. Es arbeiten bisher über 400 Autoren an dem Artikel. Das ist ja alles transparent, auch die Historie der Versionen. Das ist derzeit eine wichtige Referenzquelle. Wer sich fundiert zur COVID-19-Pandemie informieren möchte, der kann das hier tun.
„Digitaler Raum als Bereicherung“
Gemeinsam mit dem Soziologen Benedikt Köhler und dem Datenforscher Jörg Blumtritt haben Sie vor zehn Jahren das „Slow Media Manifest“ verfasst. Was sagt es, in Kurzform, aus?
Sabria David: In dem Slow Media Manifest sprechen wir uns für einen vernünftigen Umgang mit digitalen Medien aus, mit Augenmaß und jenseits von Alarmismus („mit dem Internet geht die Welt unter!“) und Apologetik („das Internet ist die Lösung für alles!“). Das Manifest ist inzwischen in viele Sprachen übersetzt worden und kursiert von Frankreich über Kanada, Amerika, China, Russland, Lettland, Rumänien in der ganzen Welt. Das hat offenbar vielen Menschen aus dem Herzen gesprochen.
Es gibt auch internationale Master- und Doktorarbeiten über den Slow-Media-Ansatz. Wir sprechen von den Grundlagen des digitalen Wandels und davon, dass es jetzt darum geht, angemessene Reaktionen auf diese Medienrevolution zu finden – sie politisch, kulturell und gesellschaftlich zu integrieren und konstruktiv zu nutzen. In genau diesem Prozess befinden wir uns ja noch immer.
Twitter ist Ihr digitaler Salon, Bloggen eine Befreiung, ein Fachportal zum digitalen Arbeitsschutz Ihr Steckenpferd – halten Sie selbst immer alle Regeln ein, die Sie selbst empfehlen oder sind Sie ein digitaler Junkie, der ständig online ist?
Sabria David: Ich empfinde den digitalen Raum wirklich als Bereicherung, vor allem meines beruflichen Lebens. Und ich finde es nach wie vor unglaublich spannend, was kulturhistorisch und gesellschaftspolitisch grade passiert. Aber wir müssen da auch gut drauf aufpassen. Wenn ich Feierabend mache, dann schalte ich, wenn möglich, alle Medien ab. Auch die Nachrichten kann ich nicht sehen, ohne an meine Arbeit erinnert zu werden. Denn alle politischen und gesellschaftlichen Geschehnisse, die nachrichtenrelevant sind, hängen letztendlich auch mit der Digitalisierung zusammenhängen. Wenn ich in Urlaub bin, lese ich nicht mal Zeitungen, um auch mal abschalten zu können.
Können Sie während der Corona-Pandemie überhaupt abschalten? Wie hat diese Krise die Mediennutzung verändert?
Sabria David: Corona war für die Arbeitswelt, für das Bildungssystem und für die Gesellschaft als Ganzes ein Crash-Kurs in Sachen Digitalisierung. Ich hoffe sehr, dass uns das jetzt einen Schub gibt und wir die Bereitschaft haben, uns mit dem Thema zu befassen. Denn nur dann können wir die digitale Welt so gestalten, wie wir sie uns wünschen. Ohne Vision läuft man den Sachen hinterher. Das kann man machen, aber dann kommt man vielleicht nicht dahin, wo man hinwill. Wer sich nicht um Digitalisierung kümmert, bekommt am Ende die, die übrig ist.
Welche digitale Gesellschaft wollen wir?
Seit über zehn Jahren beschäftigen Sie sich mit dem digitalen Wandel, der alle gesellschaftlichen Bereiche durchdringt. Sehen Sie Corona als eine Art Zäsur und Chance, neu anzufangen?
Sabria David: Unbedingt. Es gibt keinen besseren Moment als jetzt, um unser Wunschbild von einer digitalen Gesellschaft aufzubauen. Wir haben in den letzten Wochen der Notfall-Digitalisierung erfahren, was geht und was nicht geht. Auch die Dinge, die nicht funktioniert haben, sprechen ja dafür, dass man eine kluge Strategie entwickelt, dass man nicht besinnungslos alles digital macht. Es geht darum, die Mittel adäquat einzusetzen. Adäquat heißt, wo es sinnvoll ist, digital – und wo es nicht sinnvoll ist, macht man es eben nicht digital, sondern analog.
Mit diesem Wissen können wir uns zusammensetzen und klären: Welche digitale Gesellschaft wollen wir? Wie wollen wir es? Welche Rahmenbedingungen brauchen wir, um das zu schaffen? Ich spreche im Buch von Medienresilienz. Resilienz heißt Widerstandskraft und das bedeutet für eine Gesellschaft auch, mit Herausforderungen wie der Corona-Krise umgehen zu können. Sie in etwas Gutes umzuwandeln zu können und sich neu zu erfinden. Wir haben da eine wirklich gute Chance, aktiv zu werden.
Zur Person:
Sabria David, 53, ist seit 2014 im Präsidium von Wikimedia Deutschland, seit vier Jahren als Vize-Präsidentin. Die Germanistin und Linguistin ist Gründerin des „Slow Media Instituts“, das die Auswirkungen und Potentiale des digitalen Wandels auf Gesellschaft, Arbeit und Medien untersucht. Mit den Gezeitenhaus-Kliniken hat sie zur Prävention von gesundheitlicher Überlastung durch Digitalisierung den „Fokus Medienresilienz“ aufgebaut. Ziel dieser Initiative ist es, Menschen für eine souveräne Mediennutzung und eine gesunde Online-Offline-Balance zu sensibilisieren und weiterzubilden. Die Essenz ihrer praxisorientierten Forschungsarbeit enthält ihr Buch „Die Sehnsucht nach dem nächsten Klick. Medienresilienz – wie wir glücklich werden in einer digitalen Welt“, das im Patmos-Verlag erschienen ist.
Das Interview mit Sabria David ist zuerst in der Rheinpfalz erschienen. Für blmplus ist es aktualisiert und ergänzt worden.
Kommentar abgeben