Di
23.08

Hol mich ab! Ein ganz spezielles Vorstellungsgespräch

von Elena Lorscheid unter Inside Netzwelt

Schon mal ein Vorstellungsgespräch bei einer Werbeagentur gehabt? Unsere Blogautorin schon. Was dabei herauskommen kann, werdet ihr nicht für möglich halten ….

Justus führte mich in einen dunklen Raum. Er hatte zwei Glasfronten, bei denen die Jalousien heruntergelassen waren, und war kahl bis auf drei schrumpelige Kakteen, die über den Topfrand hingen. An einem Tisch hockte gollom-artig eine schwarze Gestalt vor dem Laptop. In ihren Brillengläsern leuchtete das Bildschirmlicht.

Igor glotzte in seinen PC …        Fotos: Fotolia

„Hi Igor, das ist Elena“, sagte Justus.

Igor kratzte sich geräuschvoll am Kinn und starrte weiter in den Laptop.

„Igor?“, Justus lächelte mich unsicher an, „guck mal, das ist die Elena Lorscheid.“

Igor verharrte unbeweglich über der Tastatur und drehte seinen Kopf kein einziges Mal in unsere Richtung: „Ja, ich weiß. Ich bin gleich soweit.“

„Igor?“, fragte Justus.

„Hallo Elena“, sagte Igor und glotzte in seinen PC.

Justus trat von einem Fuß auf den anderen. Ich überlegte, zu gehen. Es vergingen etwa zwei Minuten, dann sprang Igor auf, griff nach der Jacke überm Stuhl und flitzte zu mir herüber, als würde er fließen, ohne jede offensichtliche Bewegung:

„Hallo, Igor, angenehm.“

Verblüffte fühlte ich seine flache Hand in meiner. Er ließ sie gleich wieder los, als hätte er sich daran verbrannt:

„Komm, Elena, wir zwei trinken jetzt was.“

Er zog sein Kappy auf und schlurfte in seinen weiten Baggypants los.

Wir gingen über den Hof in die Kantine. Von hinten sah er aus wie fünfzehn, von vorne wie fünfundvierzig. Sein Alter lag irgendwo dazwischen.

Ich bekam frischen Ingwertee. Die gelben Bäuche der Wurzel schwammen im Becher.

Ingwertee

„Hast du da Kartoffeln drin?“, beugte sich Igor über das Getränk. Kurz dachte ich, dass er mich tatsächlich anblickte, aber er heftete seine Augen in den Teedampf.

„Ich mag Knollen“, sagte ich.

Er lächelte. In den Becher hinein.

„Also hol mich mal ab“, räusperte er sich, „was willst du? Und wo kommst du her?“

Er stützte sich mit dem Ellbogen am Tisch ab und schaute haarscharf an meinem Ohr vorbei aus dem Fenster. Ich drehte mich kurz um, um zu sehen, was da war. Da war nichts. Der Blick prallte gegen eine graue Wand.

„Ich hatte hier ja schon mal ein Bewerbungsgespräch wegen meiner nackten Bundespräsidentenrede als Werbe-Gag…“, begann ich.

„Ja, ja, ja, genau“, er lachte laut und lang in sein Glas Limonade. In seinen Augen schwammen Tränen vor Lachen. Er wischte mit seinem Ärmel an der Brille herum, gluckste, schaute auf den Boden und sagte zu ihm:

„Ja, ja, ja, ich weiß, was du studiert hast. Viele haben studiert. Darum geht’s aber nicht. Hol mich mal ab.“

„Ich möchte mit Werbung Menschen erreichen. Mich reizt die kreative Auseinandersetzung…“, setzte ich wieder an.

„Ja, ja, ja“, sagte Igor zum Tisch, „hol mich mal ab, hol mich mal ab.“

Ich runzelte die Stirn: „Wollen wir vielleicht über meine Texte reden?“

„Ach so, ja, ja, ja, genau, hast du die dabei?“, fragte er.

„Ja“, sagte ich, „und ich habe sie dir geschickt.“

Er lachte wieder, angelte nach seinem Smartphone in der Baggy und öffnete die Datei. Er lachte lauter. Er wollte irgendein Eis zwischen uns brechen. Irgendein Eis, das nicht da war, nicht da sein konnte. Igor blickte mich kein einziges Mal an. Das zwischen uns war höchstens Holz oder Plastik oder gar nichts, nichts, wie der Blick aus dem Fenster gegen die Wand, wie eine leere Cloud, in die niemand etwas laden wollte, wie eine App, die aufploppen will, aber deren Buttons sich nicht drücken lassen, nichts.

„Also“, fing ich an vorzulesen.

„Nee“, sagte Igor, „mit Aufgabenstellung.“

Langsam wurde ich sauer. Ich las die Aufgabe vor. Igor beugte sich vor und zupfte an der Tischblume.

„Hier“, sagte er zur Blume, „hier fehlt mir der Knall. Das Geile. Geilomato. Ich…, nein, hol du mich lieber ab. Hol mich mal ab.“

„Du meinst den Witz?“, fragte ich.

„Hol mich ab“, sagte er zur Limonade.

„Du meinst den Twist?“, fragte ich.

„Hol mich ab“, sagte er zu seinem Sweatshirt-Ärmel.

„Du meinst den Drive?“

Er schnippte den Zuckerbehälter von einer Hand zur anderen und wackelte mit dem Kopf: „Jetzt sitzen wir im selben Boot!“ Er blickte plötzlich auf und ich versuchte, seinen Blick zu fangen, aber der ging an mir vorbei. Ich erzählte gerade von meiner Lollipop-Idee mit den Alpen aus Zucker, als Igor auf einmal vom Stuhl zum Ausgang glitt. Wieder flitzte er mit größtmöglicher Bewegungsvermeidung durch den Raum. Beunruhigt sah ich ihm nach. Er öffnete einem Pärchen die Tür:

„Hallo Sportsfreunde, was looos?“, und lächelte und hüpfte von einem Fuß auf den anderen.

In diesem Moment verfiel ich in aufrechte Trauer. Igor sah die beiden flüchtig an, plauderte eine ganze Weile und floss gleichsam zu mir zurück. Bis dahin befand ich mich in einer Art inneren Schutzkomas vor so viel sozialer Unfähigkeit.

Wir leben im digitalen Zeitalter. Ich weiß, dass Menschen mitunter vom Fernseher erzogen wurden. Ich weiß, was ADHS ist, und ich weiß, dass der Massenkonsum von Erdnussflips, Cola und Walt Disney an vielem Schuld ist.

Von vielen Menschen erwarte ich nicht mehr, dass sie mir zuhören. Ich verstehe, dass sie nur noch auf Schlagworte assoziativ reagieren und am Gespräch so viel teilhaben wie am Essen einer Portion Fischstäbchen beim Tom & Jerry gucken. Ich entscheide aber selbstständig, mit solchen Menschen nicht viel zu tun zu haben, weil sie so interessant sind wie eine Scheibe Esspapier. Da kann man sich auch mit Plastiklöffeln in Klamotten unterhalten.

In Igors Schädel zog es verdächtig. Es schaltete sich nichts mehr zwischen die Worte, die aus seinem Mund kamen, und die Ohren, die das Gehörte hinter die Stirn schickten. Da war nichts. Da fiel die Gedankenmaschine aus. Alle Hebel standen auf unten. Wo andere einen Kopf hatten, hatte er ein Loch. Er war ein Lurch als Attrappe seiner selbst. Sein Selbst knisterte nur noch elektrisiert und zweidimensional auf Asozialen Media Plattformen und schickte Emoticons und Rechtschreibfehler in alle Himmelsrichtungen.

„Hol mich ab“, sagte Igor gleichgültig meiner inneren Lähmung gegenüber.

Ich stellte ihn mir als Kind vor. Draußen standen Gänseblümchen und Kletterbäume und er saß allein mit Nickelodeon und Tiefkühlburger auf dem großen Wohnzimmerteppich. Werbung war das einzige, was ihn begeisterte. Die Spots waren die einzigen, die ihn anlächelten und ihm Geborgenheit schenkten. Ich hätte Mitleid mit ihm gehabt, wäre seine Person nicht so amorph und emotional wirkungslos gewesen wie ein vertrocknetes Stück Knete.

„Also“, sagte Igor zu seinen Sneakern, „wer in die Werbebranche will, braucht schon einen Knall. Da habe ich viel Erfahrung.“

Ich nickte: „Ja, ich gehöre nicht in die Werbung. Ich gucke mein Gegenüber immer an und denke in Zusammenhängen. Meine Gesprächspartner interessieren mich. Tut mir leid.“
Erleichtert stand ich auf, ging raus in die reale Welt und schaute Passanten, die mir entgegenkamen, fest in die Augen.

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