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24.10

Mediennutzung von Menschen mit Behinderungen

von Ingo Bosse unter TV

In der Debatte um Inklusion spielt Barrierefreiheit von Medienangeboten eine Schlüsselrolle. Bislang gab es aber keine Zahlen dazu, wie Menschen mit Behinderungen Medien überhaupt nutzen. Das ändert eine Studie der Aktion Mensch und der Medienanstalten, die am kommenden Mittwoch, 26. Oktober, auf den Medientagen München vorgestellt wird. Für blmplus hat einer der Autoren, Prof. Dr. Ingo Bosse, im Vorfeld Fragen zu Ziel und Methodik der Studie beantwortet.

Gesellschaftliche Teilhabe durch Barrierefreiheit

BLMplus: Was ist das Ziel der Studie?

Mediennutzung von Menschen mit Behinderungen, Ingo Bosse

Ingo Bosse von der TU Dortmund hat gemeinsam mit dem Hans-Bredow-Institut die Studie erarbeitet. Foto: privat

Medien bieten für Menschen mit Behinderungen wie für alle Bürgerinnen und Bürger einen wesentlichen Zugang zur Welt und ermöglichen deren Teilhabe am öffentlichen wie am privaten Leben. Zugleich stößt der Zugang zu und die Nutzung von Medien auf Barrieren. Damit sinken gesellschaftliche Teilhabechancen. Um die Voraussetzungen für eine selbstbestimmte und chancengleiche Teilhabe an Medien für alle zu schaffen, ist ein möglichst differenziertes Wissen über die medienbezogenen Bedürfnisse und über die Zugangsbarrieren erforderlich.

Die Datenlage dazu war bisher sehr dürftig. Die Technische Universität Dortmund und das Hans-Bredow Institut der Universität Hamburg präsentieren nun eine Studie, die einen ersten Beitrag dazu leistet, die Datenlücke zur Mediennutzung von Menschen mit Beeinträchtigungen zu schließen. Sie lässt sich von grundsätzlichen Fragen der Lebensführung mit guter Qualität leiten, wie sie Art. 3 der UN-Behindertenrechtskonvention nennt:

Gibt es Zugang zu relevanten Infrastrukturen, Kommunikation und Information? Wie selbstbestimmt und eigenständig können Menschen mit Beeinträchtigungen ihre Mediennutzung gestalten? Wird ihre Freiheit, Entscheidungen zu treffen, eingeschränkt?

Wie ist die Untersuchung angelegt?

Die Untersuchungsanlage bietet eine Vergleichbarkeit zu Daten aus der ARD/ZDF Langzeitstudie Massenkommunikation (2015), die seit 50 Jahren Daten zur Mediennutzung und Medienbewertung in Deutschland liefert, dabei aber Menschen mit Beeinträchtigungen nicht ausweist (Engel & Breunig, 2015). Die Studie „Mediennutzung von Menschen mit Behinderungen“ (MMB 16) ist die aufwändigste bundesweite Stichprobe zur Mediennutzung von Menschen mit Beeinträchtigungen, die es bisher gab.

Sie ist die erste Studie, die Einseitigkeiten durch die Befragungsmethode und den Ausschluss von Teilnehmergruppen vermeidet, z.B. von Teilnehmern, die nicht in Privathaushalten leben oder nur über Gebärdensprache kommunizieren. Die Studie bildet erstmals auf bundesweiter Ebene die Mediennutzung von Menschen mit Behinderungen ab und erlaubt die fokussierte Betrachtung der relevanten Teilgruppen.

Medien müssen für alle Bürger verfügbar und nutzbar sein

Was bedeutet Barrierefreiheit?

Die Behindertenrechtskonvention wie auch die Inklusionspädagogik, etwa der „Index for Inclusion“, fordern gleichermaßen Barrierefreiheit. Sie richten den Blick nicht zuerst auf die Defizite des Individuums, sondern auf die Defizite der Umwelt. Produkte, Umfelder, Programme und Dienstleistungen sollen von allen Menschen – möglichst weitgehend ohne eine spezielle Anpassung – nutzbar sein. Im Kontext der Nutzung moderner Informations- und Kommunikationsmedien soll die Barrierefreiheit sicherstellen, dass die Medien für alle Bürger verfügbar und nutzbar sind. Zum Beispiel bedeutet dieser Anspruch, dass bei der Produktion von Filmen Untertitel und Audiodeskription eingesetzt wird.

Wie ist die Studie konzipiert und methodisch angelegt?

Die Studie konzentriert sich auf Massenmedien und legt einen Schwerpunkt auf das Fernsehen. Es wurde ein Methodenmix qualitativer und quantitativer Zugänge gewählt.

  1. Im ersten Schritt wurden spezifische medienbezogenen Bedürfnisse und Hindernisse sowie die besonderen Herausforderungen für den Feldzugang und die Befragungsmethode erfasst. Neben detaillierten Sekundäranalysen existierender Datengrundlagen und Studien lagen der Ausarbeitung des Fragebogens zur Hauptuntersuchung auch 16 Expert_inneninterviews zugrunde. Je nach Beeinträchtigung ergeben sich unterschiedliche Voraussetzungen, Barrieren und Bedarfe, deshalb wurden vier Teilgruppen unterschieden:
  • Menschen mit Sehbeeinträchtigungen/Blindheit,
  • Menschen mit Hörbeeinträchtigungen/Gehörlosigkeit,
  • Menschen mit körperlichen und motorischen Beeinträchtigungen,
  • Menschen mit Lernschwierigkeiten.

Dabei ging es auch um die Frage, auf welche Aspekte bei der Zusammensetzung der Teilgruppen geachtet werden muss. Wer gehörlos geboren ist, geht anders mit Medien um als jemand, der im Alter schwerhörig wird. Es haben sich Merkmale herauskristallisiert, die in den Teilgruppen abgebildet werden sollten: Neben Alter und Geschlecht ging es u.a. um die Form der Beeinträchtigung (blind oder sehbeeinträchtigt), den Eintrittszeitpunkt der Beeinträchtigung und die Wohnform. So haben Menschen in Einrichtungen anders Zugang zu Medien als in Privathaushalten.

  1. Dem beauftragten Marktforschungsinstitut IPSOS ist es gelungen, innerhalb von fünf Wochen 610 Personen aus allen Bundesländern Face-to-Face zu befragen. Im Vorfeld wurden in allen Teilgruppen Probeinterviews durchgeführt. Die Umsetzung des Fragebogens in Leichte Sprache wie auch die Produktion von Gebärdensprachvideos wurde in enger Zusammenarbeit getestet und erfolgreich weiterentwickelt. Kooperiert haben dafür das Forschungsteam des Lehrstuhls für körperliche und motorische Entwicklung an der Fakultät für Rehabilitationswissenschaften der Universität Dortmund, das Hans-Bredow-Instituts für Medienforschung an der Universität Hamburg und IPSOS . Das Finden der Probanden stellte sich als weniger schwierig dar, etwas länger dauerte es, gehörlose bzw. ertaubte Teilnehmende sowie solche ohne Lesefähigkeit zu rekrutieren.
  2. In einem weiteren qualitativen Untersuchungsschritt wurden diese Untersuchungsergebnisse in vier Gruppendiskussionen mit Betroffenen diskutiert.

Hoher Leidensdruck beim Thema Teilhabe an Informationsgesellschaft

Welche Erfahrungen haben Sie dabei gesammelt?

Insbesondere die Gruppendiskussionen haben verdeutlicht, dass die gleichberechtigte Teilhabe an der Informationsgesellschaft für Menschen mit Behinderungen ein Thema ist, das mit hohem Leidensdruck durch persönliche Diskriminierungserfahrungen und daher sehr großem persönlichen Interesse verbunden ist.

Eine  beispielhafte Aussage: „Ich will teilhaben! Ich möchte auch mal einen Film im Fernsehen, so normal wie möglich, erleben! Dann komme ich irgendwie in meine Kneipe um die Ecke: Haste gestern gesehen? Und ich muss dann sagen: Nein, habe ich nicht, konnte ich nicht. Ich möchte aber auch ein bisschen mitreden.“ (Gruppendiskussion Hör- und Sehbeeinträchtigungen).

Deutlich wurde, dass mit einer Beeinträchtigung weiterhin spezifische Risiken in der Mediennutzung durch Zugangs- und Teilhabebarrieren einhergehen. Die Gruppen sind dabei in sich äußerst heterogen. Inklusionschancen und Exklusionsrisiken sind stark von der jeweiligen Teilhabekonstellation abhängig

Medientatge München 16Welche Sender bieten denn schon Barrierefreiheit an?

Bisher liegen keine offiziellen Statistiken zur Barrierefreiheit in den Massenmedien vor. Dies war auch nicht Bestandteil der Studie MMB16. Ein paar Daten machen dennoch den aktuellen Stand deutlich. Mit dem seit 2013 geltenden neuen Rundfunkbeitragsrecht werden Menschen mit Behinderungen nun grundsätzlich an der Rundfunkfinanzierung beteiligt. Im Gegenzug soll das barrierefreie Angebot im öffentlich-rechtlichen Rundfunk verbessert werden.

Von den Intendanten der ARD wurde ein umfangreicher Maßnahmenkatalog zur Barrierefreiheit des Programms beschlossen Mit der Reform der Rundfunkbeiträge 2013 und dem damit verbundenen Einbezug von Menschen mit Behinderung haben ARD und Deutschlandradio ihre Anstrengungen, den barrierefreien Zugang zu ihren Programmangeboten zu ermöglichen, nochmal verstärkt. Auch das ZDF sieht das Fernsehen als Medium für alle und hat sein barrierefreies Programmangebot deutlich ausgebaut.

ProSieben hat höchsten Anteil an Untertitelquote

Pro Sieben hat mit 15 Prozent Untertitelquote den höchsten Anteil der privaten TV-Sender. Seit Mai 2015 weitet die Mediengruppe RTL Deutschland ihr Angebot für Hörgeschädigte deutlich aus. So wurde am 8. Mai 2015 „Let`s Dance“, als erste Live Show mit Untertiteln ausgestrahlt. Zusätzlich wurden auch quotenstarke Serien wie „Bones-Die Knochenjägerin“, alle Sonntagsspielfilme als auch die UEFA European Qualifiers mit in das untertitelte Programmangebot von RTL aufgenommen. Um die Entwicklungen in Bezug auf Barrierefreiheit der privaten Anbieter im Blick zu behalten, führen die Medienanstalten regelmäßig ein Monitoring der barrierefreien Fernsehprogramme der ProSiebenSat.1 Media SE und der Mediengruppe RTL durch.

Verraten Sie uns eine Tendenz bei der Bewertung des barrierefreien Angebots?

Die Barrierefreiheit im deutschen Fernsehen beurteilen die Befragten nicht immer positiv. Am deutlichsten ist dies bei den hörbeeinträchtigten Personen zu spüren. Die privaten Programme werden dabei deutlich kritischer beurteilt als das öffentlich-rechtliche Angebot. Dies gilt besonders für sinnesbeeinträchtigte Studienteilnehmer_innen. Gehörlose und ertaubte Befragte urteilen dabei weniger zufrieden als blinde Personen.

Zur Person:

Juniorprofessor Dr. Ingo Bosse leitet das Lehrgebiet Körperliche und Motorische Entwicklung an der TU Dortmund, Forschungscluster Technology for Inclusion and Participation. Zuvor war er als Lehrer an Schulen für körperlich-motorische und für geistige Entwicklung und im Gemeinsamen Lernen sowie als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universitäten Leipzig, Dortmund und Halle tätig. Zu seinen Forschungsschwerpunkte gehören Barrierefreiheit und Inklusion mit dem Schwerpunkt Behinderung und Medien sowie Medien im Gemeinsamen Unterricht.

Veranstaltungshinweis:

Die Studie „Mediennutzung von Menschen mit Behinderungen“ wird am Mittwoch, 26. Oktober um 14.45 Uhr im Raum 3 auf einem Panel der Medienanstalten bei den Medientagen München vorgestellt. Nach den Impulsvorträgen von Prof. Dr. Ingo Bosse und Prof. Dr. Uwe Hasebrink vom Hans-Bredow-Institut diskutieren Katja Hofem (ProSiebenSat.1), Cornelia Holsten (Brema), Christina Marx (Aktion Mensch), Jan Meuel (Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband) und die Gehörlosensportlerin Heike Albrecht.

Zum Download bereit steht die Studie ab 26. Oktober unter http://www.die-medienanstalten.de und unter www.aktion-mensch.de.

 

 

 

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