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16.09

Ein sechsjähriges Kind braucht kein Smartphone!

von Gerald Lembke unter Medienkompetenz

kids_Medienführerschein-kleinDie schnellsten Tablet-Wischer aus Kindergarten und Grundschule sind später nicht die medienkompetentesten Kinder, findet Prof. Dr. Gerald Lembke. Die Forderung, digitale Medien so früh wie möglich in Bildung und Erziehung zu integrieren, kritisiert er in seinem Buch „Die Lüge der digitalen Bildung“, das er gemeinsam mit dem Wirtschaftsjournalisten Ingo Leipner verfasste. BLMplus hat ihn um einen Gastkommentar zur Frage gebeten, ab welchem Alter der Einsatz digitaler Medien sinnvoll ist.

Grundschulkinder zeigen Medienkompetenz

Kinder lernen Medienkompetenz nicht durch den frühen Einsatz digitaler Medien, sondern spielerisch, z.B. über den Medienführerschein Bayern. Foto: M. Haslauer/BLM

Die Digitalisierung in Deutschland entwickelt sich zu einem Mantra der Heilsversprechen. Digitalisierung sei der Wachstumsmotor für nahezu alle wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aufgaben, so die einhellige Meinung. Und unsere Kinder müssten schnellstmöglich darauf vorbereitet werden.

Ohne Frage haben sich in den letzten zehn Jahren mit der Etablierung von mobilen Endgeräten wie Smartphones und Tablets einerseits und der großflächigen Nutzung von Computernetzwerken andererseits die Aufnahme und die Verarbeitung von Informationen und Wissen in Beruf und Privatleben rasant verändert.

Der besonders in den Medien proklamierte digitale Wandel oder die digitale Transformation hat (wieder einmal) die Diskussion über die Entwicklung von Medienkompetenz vor allem bei Kindern in die öffentliche Debatte geschoben.

Fit für den digitalen Wandel

Einstimmige Forderung: Je früher Kinder Digitalität nutzen, umso schneller entwickelt sich Medienkompetenz. So werden sie fit für den digitalen Wandel. Kinder, Unternehmen und Staat sollten davon profitieren.

Was auf den ersten Blick natürlich erscheint, entpuppt sich auf den zweiten Blick als Mythos. Denn in der Debatte um (digitale) Medienkompetenzen gibt es immer noch keinen gesellschaftlichen Konsens über die Ziele der frühkindlichen Digitalnutzung.

Dafür aber genügend Argumente für die frühkindliche Digitalerziehung: (1) Wer sich früh mit Tablet, Smartphone und Computer beschäftigt, schwimmt auf der Welle der digitalen Revolution ganz oben. Attraktive Jobs und hohes Einkommen seien später garantiert. Oder (2): Wenn wir unsere Kinder nicht so schnell wie möglich fit für die digitale Revolution machen, verpasst Deutschland den Anschluss an die Weltwirtschaft. Hinzu kommt (3): Wenn Kleinkinder sowieso zuhause stundenlang und wie selbstverständlich mit Papis, Mamis oder dem eigenen Smartphone hantieren, sollte sich diese Realität doch so schnell wie möglich auch in Kindergärten und Grundschulen widerspiegeln und die frühkindliche Digitalerziehung bereits im Kindergarten beginnen.

Logischer Schluss dieses Apologetismus: Kinder müssen ab der frühkindlichen Phase ihrer Kindergartenzeit an Tablets und Smartphones herangeführt werden. Schon Kindergärten und Grundschulen müssen großflächig mit WLAN, Netzwerken, Servern, Computern, Tablets und Smartphones ausgestattet werden.

Kindern nicht den Traum einer digitalen Zukunft suggerieren

Digitalexperte Gerald Lembke

Gerald Lembke kritisiert die frühkindliche Digitalerziehung. Foto: privat

Die beherrschende Frage sollte aber diejenige nach den Zielen solcher Maßnahmen sein. Und diese sind von den Befürwortern gar nicht oder nur oberflächlich definiert („Medienkompetenz lernen“). Es lohnt sich, eine Gegenposition zu entwickeln.

Erstens: Richtig ist, dass eine frühkindliche Beschäftigung mit Computern später nicht Job und Einkommen garantiert. Das mag in Einzelfällen zutreffen, ist aber nicht die Regel. Hier sollten Eltern ihre Erwartungen an ihre Kinder reflektieren. Außerdem ändern sich bei den meisten Kindern ab ca. 14 Jahren die Interessen. Der schnellste Tablet-Wischer aus dem Kindergarten interessiert sich plötzlich mehr für das Bolzen auf dem Fußballplatz. Frühkindliche Medienerziehung führt nicht dazu, dass unsere Kinder auf die digitale Revolution besser vorbereitet werden. Ängste zu provozieren, ist hier falsch am Platz.

Zweitens: Ob Deutschland tatsächlich den Anschluss an die digitale Weltwirtschaft verliert, ist eine bereits entschiedene Frage. Der Anschluss ist bereits verloren. Doch Kategorien wie „Verlieren“ und „Gewinnen“ sind meines Erachtens falsche Denkansätze. Es muss um die Beantwortung der Frage gehen, welche wirtschaftlichen Kernkompetenzen ein Land hat und wie diese in Zukunft weiter entwickelt werden können, ohne den ursprünglichen Pfad zu verlassen.

Und Deutschland war noch nie eine technologiegetriebene Nation, geschweige denn führend in der webbasierten Technologieentwicklung. Das Sillicon Valey benötigte für die Aggregation weltmarktbestimmender Technologie-Großkonzerne wie Google oder Facebook mehr als vierzig Jahre. Diesen Vorsprung wird eine Nation in Europa nicht mehr aufholen können. Deutschland wird auf lange Zeit eine Industrienation bleiben. Es ist verheerend, unseren Kindern den Traum einer digitalen Zukunft zu suggerieren, die mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit nicht eintreffen wird.

Früh am Bildschirm spielen und SMS schicken, aber mit welchem Ziel?

Drittens: Warum ein sechsjähriges Kind ein Smartphone benötigt, ist mir schleierhaft. Die Möglichkeit, mit dem Smartphone jederzeit das Kind regional und zeitlich kontrollieren zu können, befriedigt wohl eher das Bedürfnis nach Kontrolle, als dass es die Entstehung von Vertrauen zwischen Kind und Eltern fördert. Und wie überraschend: Medienkompetenz entwickelt sich bei den Kindern dadurch auch nicht. Stattdessen wird am Bildschirmen gespielt und tausende von Textnachrichten werden monatlich versendet, mit welchem Erziehungsziel?

Aber vielleicht benötigt eine digitale Leistungsgesellschaft eher Lösungen für ein Ersatz- und Ablenkungsmanagement, als Digitalität zielkonform und sanft in vorhandene Erziehungs- und Ausbildungsstrukturen einzubinden. Dann wären diese Geräte schädlicher Ersatz für das, was Kinder wirklich brauchen: Vertrauen, Zuwendung und körperliche Aktivitäten. Erst wenn diese Saat ihre Früchte austrägt, können wir in Deutschland entscheiden, wann und mit welchen Zielen Digitalität in unser Leben integriert werden soll. Kinder im Kindes- und Grundschulalter sind dafür die falsche Zielgruppe.

Finden Sie auch, dass Smartphones und Tablets nicht in Kindergärten und Grundschulen gehören? Wir freuen uns auf Ihre Position zu diesem Thema. Einen „Gegenkommentar“ wird es in den nächsten Tagen geben.

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