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20.10

Heute noch Journalist werden?

von Stefanie Reger unter Netzwelt Radio TV

Vor einer „Überbewertung von Social Media“ und Echtzeitjournalismus warnt Prof. Dr. Volker Lilienthal, Mitautor der Studie „Digitaler Journalismus. Dynamik – Technik – Teilhabe“. Über das Berufsbild des Journalismus im Wandel spricht er auch beim Content-Gipfel am 24. Oktober auf den Medientagen München. Tendenz, das Fachmagazin der BLM, hat mit ihm vorab über Journalismus in Zeiten von Digitalisierung und Social Media gesprochen. Hier ein Auszug aus dem Interview:

Prof. Dr. Volker Lilienthal

Trotz der prekären Lage des Journalismus lohnt es sich noch immer, Journalist zu werden, ist sich Prof. Dr. Volker Lilienthal sicher. Foto: privat

Kann der Journalismus gerade auch durch Social Media an Qualität gewinnen?
Prof. Dr. Volker Lilienthal: Social Media ist wichtig. Journalisten müssen sich darauf einlassen. Über Social Media können Journalisten sehr frische, aktuelle Hinweise auf die Stimmung in der Bevölkerung zu einem Thema bekommen. Außerdem können Social Media-Inhalte, gerade im Bereich des Lokaljournalismus, als eine Art ausgelagerte Nachrichtenagentur fungieren: Leser einer Zeitung, die gerade im Ort unterwegs sind, beobachten eher als der Redakteur am Newsdesk einen Unfall, eine Demonstration – und melden das rasch über Twitter in die Redaktion. Der Journalist kommt so schneller an Informationen, muss diese aber selbstverständlich vor der Publikation überprüfen. Auch in Krisenregionen, in die sich Journalisten aus Sicherheitsgründen nicht mehr wagen, bietet Social Media die Chance, Informations-Ausfälle zu kompensieren.

Hat dieses Leistungsvermögen denn auch Grenzen?
Ja, ich warne vor einer Überbewertung von Social Media. Soziale Medien liefern uns eine Art „Scherbenwelt“ – ein Wort von Hans Magnus Enzensberger, gemünzt auf die „Wochenschau“ Ende der 1950er Jahre. Heute sehe ich in den Tweets auf Twitter eine Art „Scherbenwelt“: Hier fließen tausende Äußerungen zusammen, und keiner weiß eigentlich, was wesentlich ist und was nur heiße Luft. Social Media-Artikulationen sind nämlich noch lange kein Journalismus. Aufgabe des Qualitätsjournalismus ist es daher, diese Rohmaterialien zu veredeln: also auszuwerten, das Relevante herauszufiltern und einen logisch nachvollziehbaren Text oder Multimediabeitrag daraus zu machen. Dieses Einordnen und Erklären von Nachrichten wird im Zeitalter von Social Media immer wichtiger.

Für ausführliche Analyse bleibt in der journalistischen Praxis aber immer weniger Zeit, weil Social Media den Nachrichtenfluss unglaublich beschleunigt: Relevante Themen besitzen oft zu dem Zeitpunkt, zu dem sie in den klassischen Medien aufgegriffen werden, bereits ein Hashtag. Journalismus in Echtzeit – kann das gut gehen?

Lassen Sie mich darauf mit einem Beispiel aus dem Lokaljournalismus antworten: Hier ist es mittlerweile üblich, dass ein Journalist auf einer Pressekonferenz im Rathaus sitzt und gehalten ist, wichtige Informationen schon vorab über sein Mobile Device via Twitter namens seiner Zeitung zu publizieren. Das kann man machen. Das ist Echtzeitjournalismus und Service für den Leser. Dennoch hat diese Praxis eine unangenehme Begleiterscheinung: Sobald der Reporter diese Information – und sei es auch nur in Form eines 140-Zeichen-Tweets – absetzt, ist er abgelenkt, hört vielleicht nicht mehr, was die Opposition vorbringt. Diese produktionelle Dimension des Journalismus, also die technische Möglichkeit, alles, auch das Bruchstückhafte und Vorläufige, sofort und in Echtzeit zu publizieren, überformt in dem Moment das rezeptive Element des Journalismus, also die Notwendigkeit des Zuhörens, des Einholens von Meinungen aus allen Lagern und des umfassenden Verstehens eines Themas, bevor es eben zur Publikation kommt. Ein Dilemma, das man nicht auflösen kann – aber man sollte es im Hinterkopf behalten…

Wie verändert sich das journalistische Berufsbild durch die zunehmende Automatisierung in den Online-Medien? Kann automatisierter Journalismus in bestimmten Feldern auch eine Chance sein?
Unsere Redaktionsbeobachtung, die unter der Leitung meines Kollegen Stephan Weichert stand, hat ergeben, dass der Roboterjournalismus in Deutschland noch nicht angekommen ist. Es gibt natürlich viele Tools, die Redakteure beispielsweise zur Sichtung von Social Media einsetzen. Aber diese Hilfsmittel funktionieren allenfalls halbautomatisch, das menschliche Auge und der menschliche Verstand sind immer noch ganz stark gefordert. Sollten Algorithmen menschliche Arbeitskraft in Zukunft teilweise ersetzen können, ist das aus meiner Sicht nur im Bereich der schnellen Nachricht, etwa der Berichterstattung über Sportergebnisse, möglich. Ich warne davor, die Automatisierung auf relevantere Felder zu übertragen. Vor allem die Relevanzbeurteilung von Informationen dürfen wir nicht Maschinen überlassen.

Bürgerreporter, Roboterjournalismus, Sparzwang in den Redaktionen – können Sie Ihren Studenten noch guten Gewissens empfehlen, Journalist zu werden?

Eine Gewissensfrage, die ich ständig mit mir herumtrage! Denn Tatsache ist: Aufgrund der ökonomisch prekären Lage des Journalismus gibt es für immer weniger Nachwuchsjournalisten soziale Sicherheit. Das ist für unsere Studierenden – und auch für mich als Dozenten – ein echtes Motivationsproblem. Und doch sage ich: Dieser Job lohnt sich, obwohl er prekär geworden ist, obwohl es hier und dort Deprofessionalisierung gibt. Dieser Job lohnt sich, weil ihn diese Gesellschaft braucht – als Selbstverständigungsinstrument für sich selbst. Von Journalisten erfahren wir von gesellschaftlichen Problemen und oft genug auch von Lösungsmöglichkeiten. So verständigen wir uns über unsere gesellschaftlichen Ziele und können Entscheidungen treffen, die sich eventuell auch in Wahlentscheidungen ausdrücken. Deshalb lohnt sich dieser Beruf – für die, die ihn ausüben, und für die, die ihn brauchen und bezahlen.

Wer sich für diesen Beruf entscheidet, muss aber auch wissen: Journalismus ist enorm anspruchsvoll geworden – es reicht nicht mehr, recherchieren zu können, Sachverhalte verstehen zu können, schreiben zu können. Die ganze digitale Kompetenz kommt neu dazu: Beispielsweise muss man die digitale Recherche beherrschen und mit der technischen Überformung der redaktionellen Alltagsarbeit klarkommen. Ein Zeitungsjournalist etwa muss heute auch für den Online-Auftritt seines Blattes unbedingt einen Multimediabeitrag produzieren können. Nur die stärksten Naturen werden sich auf diesem Multi-Kompetenzen-Markt behaupten.

Zur Person:

Prof Dr. Volker Lilienthal ist Inhaber der Rudolf-Augstein-Stiftungsprofessur für „Praxis des Qualitätsjournalismus“ am Institut für Journalistik und Kommunikationswissenschaft der Universität Hamburg und arbeitete davor 20 Jahre lang beim Fachdienst epd-Medien in Frankfurt am Main, wo er 2005 den ARD-Schleichwerbeskandal bei „Marienhof“ aufdeckte. Das komplette Interview mit ihm erscheint am 22. Oktober in der tendenz-Ausgabe 2/2014.

Zur Studie:

Die Studie „Digitaler Journalismus. Dynamik – Technik – Teilhabe“, die im Auftrag der Landesmedienanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen (LfM) entstanden ist, untersucht, inwieweit sich der Digitale Journalismus inzwischen professionalisiert hat, und welche Rolle die Teilhabe des Publikums sowie die technische Automatisierung in den Redaktionen spielen. Sie erscheint als Band 74 der LfM-Schriftenreihe und wurde erstmals im Rahmen der Fachtagung „Partizipativer Journalismus – Nutzerdialog neu denken“ vorgestellt.

Videostatement von Prof. Dr. Volker Lilienthal zur Studie (Quelle: LfM )

 

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